Wie wirksam ist Esketamin?
Priv.-Doz. Dr. Martin Plöderl
Stand 10. Dezember 2024
Esketamin ist ein von der Firma Janssen patentiertes Antinomer von Ketamin und wurde 2019 für die Behandlung der sogenannten “Behandlungsresistenten Depression” von der US-Arzneimittelbehörde FDA (Food and Drug Administration) zugelassen. Die FDA erlaubte Janssen ein Schnellzulassungsverfahren und lockerte sogar die Kriterien für die Zulassung. Im Jahr 2020 ließ die FDA Esketamin auch für die Behandlung von “depression with suicide ideation or behavior”, was von der European Medical Agency in einer deutschen Übersetzung wie folgt zu lesen ist: “als akute Kurzzeitbehandlung, zur schnellen Reduktion depressiver Symptome, die nach ärztlichem Ermessen einem psychiatrischen Notfall entsprechen”. Die Zulassung durch die EMA für beide Indikationen erfolgte kurz nach der Zulassung durch die FDA.
Mittlerweile hat Esketamin als Behandlungsoption in psychiatrischen Kliniken Einzug gefunden. In Fachartikeln und Behandlungsempfehlungen wird zum Teil recht enthusiastisch über die rasche antidepressive Wirksamkeit von Esketamin berichtet. Doch mit dem Erscheinen der ersten Wirksamkeitsstudien gab es parallel auch viele Bedenken bezüglich des Nutzens und Schadens von Esketamin. Im Folgenden möchte ich vor allem die Wirksamkeit von Esketamin in verständlicher Art beleuchten sodass Sie sich als KlinikerInnen oder PatientInnen selber ein Bild machen können.
Wie wurde die Wirksamkeit untersucht?
Studiendesign
Bis dato wurden so gut wie alle Studien zu Esketamin von der Firma Janssen finanziert. Für die Zulassung waren vor allem randomisierte Placebo-kontrollierte Studien maßgeblich (engl. randomized controlled trials, RCTs). Dabei wurden PatientInnen zufällig in (meist zwei) Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe erhielt Esketamin, die andere Gruppe Placebo. Zusätzlich zu Esketamin/Placebo erhielten PatientInnen auch eine Standardbehandlung mit herkömmlichen Antidepressiva. In manchen Studien gab es mehrere Gruppen mit verschiedenen Dosen von Esketamin (14mg, 28mg, 56mg, 84mg). Es handelte sich meist um sogenannte Doppelblind-Studien, d.h. sowohl die PatientInnen als auch das Studienpersonal wusste nicht, welche PatientInnen in welche Gruppe zugeordnet wurden. Nach anfänglichen kleineren, sogenannten Phase-2 Studien, wurden größere Phase-3 Studien durchgeführt, die für die Zulassung relevant waren, weil die Größe der Wirksamkeit hier genauer feststellbar war. Die meisten Studien zu Esketamin hatten eine Doppelblind- Behandlungsphase von 4 Wochen, gefolgt von einem Nachbeobachtungsphase von mehreren Wochen.
Was wurde in den Studien gemessen?
Das in den Studienplänen vorab festgelegte Hauptergebnis sollte eine Reduktion der Depressionssymptomatik sein, gemessen mit der Montgomery-Åsberg-Depressionsskala (MADRS). Dabei erfassen KlinikerInnen im Interview mit den PatientInnen mittels 10 Fragen verschiedene Depressionssymptome. Man kann bei der MADRS einen Depressionswert zwischen 0 und 60 haben. Eine mittelschwere Depression entspricht etwa einem Wert zwischen 20 und 34 MADRS-Punkten. Das Hauptergebnis der Studien ist der Vergleich zwischen dem Rückgang an MADRS-Depressionswerten in der Esketamingruppe im Vergleich zur Placebogruppe. Man nennt dies “Effektivität”.
Sie können den nun folgenden Exkurs zur klinischen und statistischen Signifikanz überspringen und gleich zu den Wirksamkeitsstudien gehen. Jedoch werden Ihnen diese Begriffe immer wieder unterkommen und es ist hilfreich, sie zu verstehen.
Klinische Signifikanz
Wichtig für die Interpretation der Studienergebnisse ist zu wissen, wie groß die gefundene Effektivität, also der Unterschied zwischen dem MADRS-Depressionswert nach der Behandlung mit Placebo oder Esketamin ist. Vor allem ist zentral, ob die Effektivität von klinischer Bedeutsamkeit ist, also für PatientInnen wirklich einen Unterschied macht. Man spricht hier auch von klinischer Signifikanz oder von (engl.) “minimal important difference”. Wenn man gängige Kriterien für die klinische Signifikanz heranzieht, dann sollten sich PatientInnen mit Esketamin zumindest um 3-9 MADRS-Punkte stärker verbessern als mit Placebo (Hengartner and Plöderl 2018).
Statistische Signifikanz
Jede Messung ist mit Unsicherheit verbunden. Mit kleinen Stichproben kann man die Effektivität nur mit großer Unsicherheit schätzen, ähnlich wie die ersten Hochrechnungen bei Wahlergebnissen noch mit Unsicherheit behaftet sind. Je größer die Stichproben werden, umso präziser kann man die Effektivität schätzen. Hier kommt die sogenannte “statistische Signifikanz” ins Spiel, die Ihnen beim Lesen von Fachartikeln regelmäßig unterkommen wird. Auch für die Zulassung von Medikamenten ist die statistische Signifikanz zentral. Hier wird gefordert, dass zumindest zwei Studien statistisch signifikant ausfallen. Leider ist die statistische Signifikanz schwer intuitiv fassbar und das führt zu vielen Missverständnissen. Salopp gesprochen kann man sagen, dass die statistische Signifikanz aussagt, wie sicher man von einem Unterschied größer als Null ausgehen kann, in unserem Fall mehr als Null MADRS-Punkte Unterschied zwischen Placebo und Esketamin. Beim statistischen Signifikanztest geht man von der Annahme aus, dass es keinen Unterschied zwischen Placebo und Esketamin gibt (die Null-Hypothese). Dann wird mathematisch berechnet, wie wahrscheinlich es ist, unter der Annahme der Null-Hypothese, die tatsächlich beobachteten Daten zu erhalten, oder sogar noch stärker von der Null-Hypothese abweichende Daten. Diese Wahrscheinlichkeit ist der p-Wert, die sogenannte Irrtumswahrscheinlichkeit. Wenn die Wahrscheinlichkeit unter 5% ist, dann spricht man von “statistischer Signifikanz”. Ganz wichtig ist dabei zu wissen, dass die statistische Signifikanz nichts über die Größe des Unterschiedes aussagt, sondern nur, dass ein Null-Unterschied angesichts der beobachteten Daten unwahrscheinlich ist. Bei sehr großen Stichproben werden auch unbedeutendste kleinste Unterschiede statistisch signifikant. Umgekehrt sind bei sehr kleinen Stichproben oft große bedeutsame Unterschiede zwischen Medikamenten und Placebo nicht statistisch signifikant.
Studien zur behandlungsresistenten Depression
Ergebnisse der Zulassungsstudien (TRANSFORM 1-3)
Zur Überprüfung der Wirksamkeit von Esketamin und zur Zulassung führte Janssen eine kleinere Phase-2 Studie (SYNAPSE) mit Esketamin durch (Daly et al. 2018), gefolgt von drei größeren Phase-3 Studien (TRANSFORM 1-3). Die Doppelblindphase dauerte vier Wochen und PatientInnen erhielten hier entweder Placebo oder Esketamin zweimal pro Woche, zusätzlich zu herkömmlichen Antidepressiva. Vorab geplantes Hauptergebnis war die Effektivität nach 4 Wochen, also der Unterschied im Rückgang der Depressionssymptome zwischen Esketamin und Placebo, gemessen mit der MADRS. In den drei TRANSFORM Studien zeigte sich ein Unterschied von maximal 4 Punkten auf der MADRS. Und nur in der TRANSFORM 2 Studie war dieser Unterschied auch statistisch signifikant. Wie im vorigen Abschnitt erläutert, braucht es mindestens 3 bis 9 Punkte Unterschied, um die Untergrenze der klinischen Bedeutsamkeit (klinische Signifikanz) zu erreichen. Daher ist die beobachtete Effektivität fraglich klinisch bedeutsam. In den Abbildungen 1-3 sind die Hauptergebnisse der TRANSFORM Studien grafisch dargestellt.
Abb. 1. Ergebnis der TRANSFORM 1 Studie (Fedgchin et al. 2019). Auf der y-Achse ist der Rückgang der Depressionswerte gemessen mit der MADRS-Skala zu sehen. Grau: Placebo, Grün: Esketamin 56mg, Blau: Esketamin 84mg
Abb. 2. Ergebnis der TRANSFORM 2 Studie (Popova et al. 2019). Auf der y-Achse ist der Rückgang der Depressionswerte gemessen mit der MADRS-Skala zu sehen. Orange: Placebo, Grün: Esketamin 56mg oder 86mg. Statistische Signifikanz wurde nur am Ende der Doppelblind-Phase erreicht (mit einem Stern markiert).
Abb. 3. Ergebnis der TRANSFORM 3 Studie (Ochs-Ross et al. 2020). Diese Studie wurde mit älteren PatientInnen durchgeführt. Auf der y-Achse ist der Rückgang der Depressionswerte gemessen mit der MADRS-Skala zu sehen. Grau: Placebo, Schwarz: Esketamin (flexible Dosierungen 28-84mg). Die Grafik wurde den FDA Dokumenten entnommen, da Ochs-Ross et al. die Daten nur getrennt nach zwei Altersgruppen berichteten.
Kritische Anmerkungen
Zunächst ist, wie schon erwähnt, festzuhalten, dass die Effektivität fraglich klinisch bedeutsam ist. Zur Interpretation der Ergebnisse ist es zudem wichtig, typische Verzerrungseffekte (Biases) in klinischen Studien zu beachten. Ein Problem in klinischen Studien ist oft, dass eine Verblindung schwer möglich ist, so auch in den Esketamin-Studien. Denn Esketamin hat typische psychotrope Effekte, sodass PatientInnen und KlinikerInnen in den Studien gut erraten können, wer das Medikament bekommt und wer Placebo. Es ist bekannt, dass diese Entblindung mit einer Überschätzung der tatsächlichen Wirksamkeit einhergeht [@hengartner2018]. Zudem wurden alle Studien vom Hersteller durchgeführt bzw. gesponsert. Es ist gut untersucht, dass dies ebenfalls zu einer Überschätzung der tatsächlichen Wirksamkeit führt. Daher kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Wirksamkeit von Esketamin in Wirklichkeit kleiner als die beobachteten 4 MADRS Punkte sind. Somit ist auch die klinische Bedeutsamkeit wahrscheinlich nicht gegeben.
Die Studien zeigen, dass es auch in den Placebo-Gruppen zu einem deutlichen Rückgang der Depressionssymptome kam. Es scheint also wichtig zu sein, in der Studie behandelt zu werden, und kaum relevant, ob man dann Esketamin oder Placebo bekommt. Zur Erklärung der Verbesserung in allen Gruppen spielen vermutlich unspezifische Wirkfaktoren wie viel Kontakt mit KlinikerInnen eine tragende Rolle. Von VertreterInnen von Esketamin ist in diesem Zusammenhang zu hören, dass in den Studien “leider” der Placebo-Effekt so groß sei. Aber für wen trifft dieses “leider” zu? Wenn PatientInnen auch mit unspezifischen Wirkfaktoren (z.B. viel Kontakt) profitieren, dann ist das doch gut so, denn damit müssen PatientInnen nicht unnötig mit den Nebenwirkungen von Esketamin belastet werden und das Gesundheitssystem nicht mit den hohen Kosten von Esketamin. Immerhin kostet eine 4-Wöchige Behandlung mit Esketamin 84mg über 8000 Euro (Spießl 2021). Zudem sind Nebenwirkungen mit Esketamin durchaus häufig und es kam deshalb auch zu deutlich mehr Behandlungsabbrüchen mit Esketamin als mit Placebo.
Ein weiteres enttäuschendes Ergebnis der Studien war Folgendes: man erwartete sich, ähnlich wie bei der Behandlung mit intravenösem Ketamin, eine rasche und anhaltende Wirksamkeit. Dies wurde in den TRANSFORM Studien als eine zumindest 50%-ige Reduktion der Depressionssymptomatik (z.B. von 30 auf 14 MADRS Punkte) definiert, die in der ersten Woche erreicht werden und bis zum Behandlungsende (4 Wochen) andauern sollte. Dieses Kriterium wurde aber nur von 11% der PatientInnen mit Esketamin erreicht und von 6% mit Placebo.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Definition von “behandlungsresistenter Depression”. In den Studien wird das zumeist als zwei erfolglose Therapieversuche mit verschiedenen Antidepressiva definiert, selbst wenn es sich um zwei Antidepressiva aus der gleichen Substanzklasse handelt, etwa zwei verschiedene SSRIs. Eine erfolglose Behandlung mit Psychotherapie oder anderen Ansätzen spielt dabei keine Rolle. Man müsste daher also von Antidepressiva-resistenter Depression sprechen.
Es sollte auch kritisch angemerkt werden, dass Esketamin trotz der eher enttäuschenden Wirksamkeitsergebnisse zugelassen wurde. Normalerweise werden zwei positive (statistisch signifikante) Phase-3 Studien benötigt. Erstmals in der Geschichte senkte die FDA die Zulassungskriterien derart. Diese Kritikpunkte und einige mehr finden Sie in den Reaktionen auf die Publikationen der Zulassungsstudien (Gastaldon et al. 2020; Horowitz and Moncrieff 2020; Naudet and Cristea 2020; Schatzberg 2019; Turner 2019).
Erst nach der Zulassung erschienen weitere Studien zu Esketamin zur Behandlung einer behandlungsresistenten Depression von Janssen, und in beiden Studien kamen noch enttäuschendere Ergebnisse zu Tage. So gab es in der japanischen Phase-2a Studie (Takahashi et al. 2021) überhaupt keinen Unterschied zwischen verschiedenen Dosen von Esketamin und Placebo (Abb. 4). In der größeren Phase-3 Studie mit PatientInnen aus China und USA (Chen et al. 2023) gab es ebenfalls keine signifikanten Unterschiede zwischen Esketamin und Placebo (Abb. 5). Berücksichtigt man diese Ergebnisse, dann untermauert das zusätzlich, dass die Effektivität von Esketamin nicht klinisch bedeutsam ist.
Abb. 4. Ergebnis der japanischen Studie zur behandlungsresistenten Depression (Takahashi et al. 2021). Diese Studie erschien nach der Zulassung von Esketamin.
Abb. 5. Ergebnis der jüngsten Studie zur behandlungsresistenten Depression (Chen et al. 2023). Diese Studie erschien nach der Zulassung von Esketamin.
Studien zur suizidalen Depression
Die Behandlung von Suizidalität im Rahmen eines depressiven Zustandsbildes ist zweifelsohne ein Schwerpunkt in der (akut)psychiatrischen Behandlung. Herkömmliche Antidepressiva sollten nicht zur speziellen Behandlung der Suizidalität verwendet werden [@bundesärztekammer2023], denn sie können das Suizidrisiko erhöhen. Es gibt einen gewissen Druck, bessere Medikamente als Antidepressiva zu entwickeln, denn Antidepressiva sind nur schwach wirksam und die Wirkung stellt sich nur langsam ein. Für intravenös verabreichtes Ketamin gab es bereits erfolgversprechende Ergebnisse zur raschen Reduktion von Depressivität und Suizidgedanken (Plöderl, Hengartner, and Volkmann 2022), und nach einer positiven kleinen Phase-2 Studie mit Esketamin in der Behandlung von suizidal depressiven PatientInnen [@canuso2018] standen auch hier die Vorzeichen günstig zur Zulassung. Janssen führte dann zwei größere und aussagekräftige Phase-3 Studien durch, die im Folgenden vorgestellt werden.
Die Phase-3 Studien zur suizidalen Depression ASPIRE 1+2
Mit den zwei ASPIRE Studien Ionescu et al. (2020) hat Janssen eindrucksvoll bewiesen, dass gute klinische Studien auch mit suizidgefährdeten PatientInnen machbar sind. Üblicherweise werden suizidale PatientInnen nämlich immer aus Studien ausgeschlossen. Im Falle der ASPIRE Studien wurden PatientInnen sogar nur dann eingeschlossen, wenn sie stärkere Suizidgedanken mit einem gewissen Drang, diese auch in die Tat umzusetzen hatten, sodass eine stationäre Aufnahme indiziert schien. Etwa 85% der PatientInnen in den ASPIRE Studien wurden als moderat bis extrem stark suizidgefährdet eingeschätzt.
PatientInnen in den ASPIRE Studien wurden wieder zufällig in eine Behandlung mit Esketamin 84mg oder Placebo (zwei Mal in der Woche) im Doppelblind-Design zugeordnet. Die Doppelblindphase dauerte 4 Wochen, und es gab eine Nachbeobachtungsphase von 2 Monaten. Zudem erhielten alle PatientInnen eine optimierte Behandlung mit herkömmlichen Antidepressiva und eine im Durchschnitt dreiwöchige stationäre psychiatrische Behandlung.
Die Studien waren mit insgesamt 456 PatientInnen relativ groß, sodass ziemlich genaue Schätzungen der Effektivität möglich waren. Das vorab festgelegte Hauptergebnis war die Reduktion der Depressivität (gemessen mit der MADRS), und zwar 24 Stunden nach Verabreichung von Esketamin bzw. Placebo. Sekundäres geplantes Ergebnis war die Reduktion der Suizidgedanken, gemessen mit dem Modul für Suizidalität aus der revidierten Version der Clinical Global Impression Scale (CGI-SS-r). In Abb. 6 und 7 sind die Ergebnisse grafisch dargestellt.
Primäres Ergebnis: der Rückgang der Depressionssymptome nach 24 Stunden war in der Esketamingruppen um knapp 4-Punkte stärker als in der Placebogruppen. Dieser Unterschied war in beiden Studien statistisch signifikant. Nachdem die Untergrenze für klinische Bedeutsamkeit 3-9 MADRS Punkte beträgt, sind die Ergebnisse allerdings fraglich klinisch bedeutsam.
Sekundäres Ergebnis: der Rückgang der Suizidgedanken unterschied sich nicht statistisch signifikant zwischen PatientInnen in den Esketamingruppen im Vergleich zu jenen in den Placebogruppen. Auch vom Ausmaß her war der Effekt klein. Nachdem es keine Untersuchungen zur klinischen Signifikanz bei Suizidgedanken gibt, kann man die sogenannte Effektstärke heranziehen (standardisierter Mittelwertsunterschied). Dieser betrug -0.14 in der ASPIRE 1 Studie und -0.12 in der ASPIRE 2 Studie. Nach üblichen Konventionen sind Effektstärken unter 0.3 als klein zu bezeichnen, und klinisch relevante Wirksamkeiten entsprechen einer Effektstärke von mindestens 0.5. Die Effekte für Suizidgedanken sind daher ziemlich sicher nicht klinisch Bedeutsam.
Abb. 6. Ergebnis der ASPIRE 1 Studie (Ionescu et al. 2020). Auf der y-Achse ist der Rückgang der Depressionswerte gemessen mit der MADRS Skalas zu sehen.
Abb. 7. Ergebnis der ASPIRE 2 Studie (Fu et al. 2020). Auf der y-Achse ist der Rückgang der Depressionswerte gemessen mit der MADRS Skalas zu sehen.
Im weiteren Verlauf bis zum Ende der Doppelblindphase (4 Wochen) waren die Unterschiede zwischen Esketamin und Placebo klein, zumeist nicht statistisch signifikant, und in der Nachbeobachtungsphase zum Teil gänzlich verschwunden.
Kritische Anmerkungen
Zur Interpretation der ASPIRE Studien sollten ähnliche methodische Limitationen wie bei den Studien zur Behandlungsresistenten Depression berücksichtigt werden. Neben dem Umstand, dass die gefundenen Effekte fraglich klinisch relevant sind, ist auch hier eine Überschätzung des ohnehin kleinen Effektes durch das Problem der kaum möglichen Verblindung gegeben. Dieser Bias könnte hier sogar noch stärker sein, weil das primäre Ergebnis kurz nach der Verabreichung erfolgte. Zudem wurden alle Studien von Janssen gesponsert. Außerdem gab es keinen positiven Effekt für die Reduktion von Suizidgedanken. Aber gerade darauf kommt es natürlich in der Behandlung der suizidalen Depression an. Man würde ja erwarten, dass sich der geringfügig stärkere Rückgang in der Depressivität mit Esketamin im Vergleich zu Placebo auch in den Suizidgedanken niederschlägt. In diesem Zusammenhang ist es interessant, auf wirklich “harte” Studienergebnisse hinzuschauen, nämlich Suizidversuche und Suizide. Dadurch dass die ASPIRE Studien an suizidalen PatientInnen durchgeführt wurde, kamen suizidale Handlungen erwartungsgemäß deutlich häufiger vor als in den Studien zur behandlungsresistenten Depression. Es zeigte sich dass in der Doppelblindphase je 4 Suizidversuche in der Esketamingruppe und der Placebogruppe passierten (Tab. 1). In der Nachbeobachtungsphase gab es 7 Suizidversuche und einen Suizid in der Esketamingruppe und 3 Suizidversuche in der Placebogruppe. Tendenziell gab es also mehr suizidale Handlungen in der Esketamingruppe. Der Unterschied ist zwar nicht statistisch signifikant, aber dennoch sind das Ergebnisse, die man sich nicht von einem Medikament erwarten würde, das einen Durchbruch in der Behandlung von suizidal depressiven Patienten darstellen soll.
Tabelle 1. Suizide und Suizidversuche in den ASPIRE Studien
Phase | Esketamin | Placebo |
Suizidversuche | Suizide | |
Doppelblind (4 Wochen) |
4 | 0 |
Nachbeobachtung (2 Monate) | 7 | 1 |
Gesamt | 11 | 1 |
So wie in den Studien zur Behandlungsresistenten Depression kam es auch in den ASPIRE Studien zur suizidalen Depression zu einem deutlichen Rückgang an Depressivität und Suizidgedanken sowohl unter Esketamin als auch unter Placebo. Die Teilnahme an der Studie war also relevant, und kaum (für Depressivität) bzw. nicht (für Suizidgedanken) ob PatientInnen das Medikament oder Placebo erhielten. Vermutlich ist es also der intensivere Betreuungsaufwand und eine optimierte Behandlung, was zählt.
Die Ergebnisse der ASPIRE Studie werfen auch ein kritisches Licht auf die Praxis der wiederholten Gaben von Esketamin, da die Wirksamkeit dennoch eher nachlässt und kaum klinisch relevant ist. Interessanterweise erreichen Studien mit einer einmaligen Gabe von Ketamin IV kurzfristig stärkere Effekte, zumindest in den ersten drei bis fünf Tagen. Allerdings ist die Evidenzlage hier mit mehr Unsicherheit verbunden (Plöderl, Hengartner, and Volkmann 2022). Die fehlenden langfristigen Effekte trotz wiederholter Verabreichungen lassen auch Zweifel an der Neuroplastizitäts-Annahme der Wirksamkeit von Ketamin oder Esketamin aufkommen. Würde es zu mehr Neuroplastizität kommen und dadurch auch zu mehr Veränderungs- und Lernpotential, dann nähme die Effektivität mit der Zeit zu- und nicht ab. Die kurzfristige deutliche Wirksamkeit von Ketamin scheint eher die Annahme einer Musterunterbrechung zu stützen. Es kann aber auch sein, dass der Effekt maßgeblich auf Erwartungseffekten beruht. In einer bemerkenswerten weil wirklich verblindeten Studie wurden depressiven PatientInnen, welche aufgrund einer organischen Problematik einen medizinischen Eingriff mit Vollnarkose brauchten, während der Vollnarkose entweder Ketamin oder Placebo verabreicht (Lii et al., n.d.). Es kam zwar in beiden Gruppen zu einem Rückgang der Depressivität, aber es war überhaupt kein Unterschied zwischen der Ketamin- und der Placebogruppe feststellbar, und PatientInnen konnten auch nicht erraten, in welcher Gruppe sie waren.
Abschließend ist die deutsche Übersetzung der Indikation zu hinterfragen. Untersucht und zugelassen wurde Esketamin für depressive PatientInnen mit starken Suizidgedanken (engl. “Depression with suicide ideation or behavior”). Die Deutsche Übersetzung (psychiatrischer Notfall) ist demnach nicht präzise. Natürlich ist eine suizidale Depression oft eine psychiatrischen Notfall, aber umgekehrt ist ein psychiatrischer Notfall im Rahmen einer Depression nicht immer mit einer suizidalen Depression verbunden.
Reaktionen der Fachgesellschaften
Angesichts der eher enttäuschenden Wirksamkeitsergebnisse wundert es nicht, dass sich einige Fachgesellschaften gegen die Empfehlung von Esketamin ausgesprochen haben. Dazu zählen das britische National Institute for Health Care Excellence (NICE), der Dänische Arzneimittelrat, oder (zunächst) auch das Deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.
Rettungsversuche und die ESCAPE Studie
Die negativen Urteile der genannten Fachgesellschaften blieben nicht unwidersprochen. Sowohl Janssen als auch prominente PsychiaterInnen, welche finanzielle Zuwendungen von Janssen erhielten und als Meinungsmacher (Key-Opinion-Leader) bezeichnet werden können, wurden aktiv (Health and Care Excellence 2022, 2024).
Vor allem spielt dabei die neuere von Janssen gesponserte ESCAPE Studie [@reif2023] eine Rolle, mit der ein Zusatznutzen von Esketamin demonstriert werden soll. Die ESCAPE Studie wird aktuell zudem sehr für die Vermarktung von Esketamin verwendet. Daher sollte sie auch hier zusammengefasst werden.
In der ESCAPE Studie wurde die Wirksamkeit von Esketamin im Vergleich zu Quetiapin bei der Behandlung der Behandlungsresistenten Depression vergleichen. Die Studie war dabei Open Label, d.h. PatientInnen wussten, ob sie in der Esketamin- oder Quetiapin-Gruppe landeten. Es gab keine Placebo-Kontrollgruppe. Das vorab geplante primäre Behandlungsergebnis war die Remissionsrate nach 8 Wochen. Eine Remission wurde definiert als 10 oder weniger Punkte auf der MADRS. Das sekundäre Behandlungsergebnis war, ob remittierte PatientInnen bis zum Behandlungsende (32 Wochen) ohne Rückfall blieben (definiert als MADRS-Wert über 21 Punkte über zwei Messzeitpunkte).
Nach 8 Wochen waren unter Esketamin 27% remittiert, verglichen mit 18% unter Quetiapin. Davon blieben 22% mit Esketamin und 14% mit Quetiapin bis zum Behandlungsende ohne Rückfall. Diese Unterschiede waren statistisch signifikant. Am Ende der 32-wöchigen Behandlung unterschieden sich jedoch beide Gruppen nicht signifikant hinsichtlich der Depressivität: PatientInnen in der Esketamingruppe waren im Schnitt 2 MADRS Punkte weniger depressiv.
Die Ergebnisse überzeugten kürzlich das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, dass also doch ein Zusatznutzen für Esketamin vorliegt.
Auch bei der ESCAPE Studie sollten gewisse Aspekte berücksichtigt werden, um die Ergebnisse adäquat interpretieren zu können. Zum einen ist es eine Open Label Studie, und daher ist von einer Überschätzung der Wirksamkeit auszugehen. Außerdem ist die Studie wiederum vom Hersteller von Esketamin gesponsert worden, was ebenfalls mit einer Überschätzung der Wirksamkeit einhergehen kann.
Es gibt aber zwei schwerwiegende Probleme in der ESCAPE Studie. Das erste ist, dass Studienabbrecher automatisch als “nicht-Remitter” kategorisiert wurden. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn PatientInnen selektiv abbrechen, was durchaus plausibel ist. PatientInnen wussten ja, ob sie das neue Medikament erhielten oder das altbekannte Quetiapin mit seinen Nebenwirkungen wie Sedierung und Gewichtszunahme. Es kann also sein, dass viele Abbrecher einfach unzufrieden waren, nicht in der Gruppe mit dem neuen Medikament gelandet zu sein. Ein zweites schwerwiegendes Problem ist, dass sich die Interventionen in beiden Gruppen stark unterschieden. PatientInnen in der Quetiapin-Gruppe wurden bloß die Pillen ausgehändigt, die sie selbständig täglich zuhause nehmen sollten. Im Unterschied dazu mussten PatientInnen in der Esketamin-Gruppe regelmäßig zu den Studienzentren kommen um Esketamin unter Beobachtung zu applizieren. Dazu musste vorab der Blutdruck und andere Vitalparameter gemessen werden. Die Verabreichung sollte in einem ruhigen, angenehmen Raum erfolgen, und die ganze Prozedur dauerte durchaus eine Stunde oder mehr. Im Schnitt hatten die PatientInnen unter Esketamin etwa 45 solche Sitzungen. Diese Prozeduren realisieren unspezifische Wirkfaktoren (Aktivierung, Zuwendung, Kontakte, Entspannung) und stellen an sich eine Intervention dar, die bei Quetiapin fehlte. Aus Antidepressiva-Studien ist bekannt, dass bereits ein oder zwei zusätzliche Kontakte mit dem Studienpersonal zu einer größeren Effektivität führen, und die Verstärkung der Effektivität entspricht sogar der Wirksamkeit von Antidepressiva überhaupt (Posternak and Zimmerman 2007). Um wieviel verstärkt sich die Effektivität dann erst bei 45 zusätzlichen Kontakten? Daher sind die Ergebnisse der ESCAPE Studie eigentlich nicht wirklich interpretierbar. Zumindest hätte versucht werden müssen, das Behandlungsritual vergleichbar zu machen oder eine Placebo-Gruppe mit dem gleichen Behandlungsritual zu untersuchen. In den Placebo-kontrollierten Studien wurde wirklich alles gleich gehalten, außer die Verabreichung von Esketamin/Placebo, und daher vermutlich auch die deutlich schlechteren Ergebnisse im Vergleich zur ESCAPE Studie. Es ist erstaunlich, dass diese Kritikpunkte kaum berücksichtigt wurden, weder in der Original-Publikation, noch vom Deutschen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen.