Antidepressiva
Das Gehirn des Menschen besteht aus Milliarden von Nervenzellen (Neuronen), die unentwegt Signale übermitteln und verarbeiten. Die Signale laufen als elektrische Ströme durch die Nervenbahnen. Die einzelnen Neuronen stehen über spezielle Kontaktstellen, die Synapsen, miteinander in Verbindung.
Über diese Kontaktstellen werden Signale von einer Nervenzelle auf die nächste übertragen, und zwar mithilfe von bestimmten Überträgersubstanzen, den Neurotransmittern.
Trifft ein elektrischer Impuls an der vor der Synapse liegenden Nervenzelle (präsynaptisches Neuron) ein, so schüttet die Nervenzelle aus ihren Speichern Neurotransmitter in eine mikroskopisch kleine Lücke, den synaptischen Spalt, aus. Diese Botenstoffe wandern zur Nervenzelle, die hinter der Synapse liegt (postsynaptisches Neuron), wo sie an bestimmte Bindungsstellen (Rezeptoren) andocken, was wiederum einen elektrischen Impuls auslöst.
Die Neurotransmitter stehen beim gesunden Menschen in einem bestimmten Gleichgewicht zueinander. Bei Depressionen ist diese Balance zwischen den Neurotransmittern gestört, was in Symptomen wie gedrückter Stimmungslage, Antriebslosigkeit und Schlafstörungen seinen Niederschlag findet.
Insbesondere kommt es bei depressiven Menschen zu einer verminderten Aktivität jener Nervenzellen, die die Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin übertragen. Durch Medikamente zur Behandlung der Depression (Antidepressiva) wird die Konzentration dieser Neurotransmitter an den Synapsen erhöht. Dieser Vorgang benötigt allerdings etwas Zeit, weshalb das Gleichgewicht zwischen den Überträgersubstanzen erst einige Tage bis Wochen nach Therapiebeginn wiederhergestellt ist – und somit auch die depressiven Symptome abklingen.
Wann kommen Antidepressiva zur Anwendung?
Die Behandlung einer Depression basiert im Wesentlichen auf zwei Säulen: Psychopharmaka und Psychotherapie.
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Am Beginn einer Behandlung sollte immer das einfühlsame, stützende ärztliche Gespräch stehen, in dessen Rahmen ein Therapieplan erstellt wird. Bei leichteren Formen der Depression werden Arzneimittel und Psychotherapie etwa gleich erfolgreich eingesetzt, wobei eine Psychotherapie der medikamentösen Behandlung manchmal sogar überlegen sein kann. Bei mittelstark bis stark ausgeprägter Depression wird zu Beginn eine medikamentöse Therapie empfohlen. Ideal ist eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie.
Natürlich kann die Einnahme von Antidepressiva das Leben betroffener Menschen nicht von Grund auf ändern. Vielfach ist die medikamentöse Therapie allerdings Voraussetzung dafür, dass Patienten ihre Probleme überhaupt in Angriff nehmen können. Denn wenn Antriebs- und Hoffnungslosigkeit nachlassen, werden zuvor unüberwindlich erscheinende Schwierigkeiten zu Problemen mit vergleichbar alltäglichem Charakter, an deren Lösung gearbeitet werden kann.
Wie wirken Antidepressiva?
In der Medizin steht heute eine Reihe von Arzneimitteln zur Verfügung, die zur Behandlung einer Depression eingesetzt werden können. Standen früher vor allem die sogenannten trizyklischen und tetrazyklischen Antidepressiva im Mittelpunkt der Therapie, haben sich im letzten Jahrzehnt die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) etabliert.
Allen Antidepressiva ist gemeinsam, dass sie in die verschiedenen Neurotransmitter-Systeme eingreifen. Wirkung und Nebenwirkungen der einzelnen Arzneimittel hängen davon ab, welche und wie viele Neurotransmitter sie beeinflussen. Die älteren, klassischen Medikamente (z.B. trizyklische Antidepressiva) greifen in zahlreiche Systeme ein, die neueren Antidepressiva (z.B. SSRI) wirken dagegen gezielter und sind daher besser verträglich.
Um die Neurotransmitter wieder ins Gleichgewicht zu bringen, stehen verschiedene medikamentöse Wirkmechanismen zur Verfügung:
Hemmung der Wiederaufnahme
Nachdem Neurotransmitter an die Rezeptoren des postsynaptischen Neurons „angedockt“ und ihre Aufgabe der Signalübertragung erledigt haben, werden die Überträgersubstanzen wieder in das präsynaptische Neuron zurücktransportiert. Man nennt diesen Mechanismus Wiederaufnahme (Reuptake).
Bestimmte Wirkstoffe, sogenannte Reuptake-Inhibitoren bzw. Wiederaufnahme-Hemmer, können nun jenes Transportmolekül, das die Rückführung der Neurotransmitter bewerkstelligt, blockieren. Dadurch wird den Neurotransmittern der Weg zurück quasi versperrt. Sie verbleiben folglich länger im synaptischen Spalt und können gewünschte Signale mehrfach übertragen. Die Wirkung der meisten älteren wie auch neueren Antidepressiva beruht auf der Hemmung der Wiederaufnahme.
Steigerung der Ausschüttung
Normalerweise registriert das präsynaptische Neuron über bestimmte Rezeptoren, ob es bereits ausreichend Neurotransmitter ausgeschüttet hat. Blockieren Medikamente diese Rezeptoren, wird die Ausschüttung nicht gestoppt – und die Neurotransmitter „überschwemmen“ gleichsam den synaptischen Spalt.
Hemmung des Abbaus
Im normalen Hirnstoffwechsel stehen Bildung und Abbau von Neurotransmittern zueinander im Gleichgewicht. Am Abbau sind bestimmte Enzyme beteiligt. Werden diese durch Medikamente gehemmt, werden mehr Überträgersubstanzen gebildet als abgebaut und ihre Konzentration steigt in der Folge an. Die sogenannten MAO-Hemmer beruhen auf diesem Wirkprinzip.
Welche Medikamente kommen zum Einsatz?
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren; abgekürzt SSRI) blockieren gezielt das Transportmolekül, das den Überträgerstoff Serotonin wieder in seine Speicher zurückbefördert. Auf die Wiederaufnahme von anderen Neurotransmittern haben Präparate aus dieser Wirkstoffklasse einen sehr geringen bis keinen Einfluss.
SSRI sind gut verträglich und finden daher breite Anwendung. Sie eignen sich vor allem zur Behandlung von leichten und mittelgradigen depressiven Episoden sowie von Angst- und Zwangsstörungen.
Zu den Wirkstoffen zählen Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin.
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren; abgekürzt SNRI) hemmen gezielt den Rücktransport von Noradrenalin und Serotonin. Sie wirken sowohl stimmungsaufhellend als auch antriebssteigernd.
Zu den Wirkstoffen zählen Duloxetin, Milnacipran und Venlafaxin.
Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer
Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer (Noradrenalin-Dopamin-Reuptake-Inhibitoren; abgekürzt NDRI) hemmen den Rücktransport von Noradrenalin und Dopamin in die Neuronen. Sie werden bei schweren depressiven Episoden eingesetzt.
Wirkstoff: Bupropion
Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer
Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (Noradrenalin-Reuptake-Inhibitoren; abgekürzt NARI) hemmen gezielt den Rücktransport des Botenstoffes Noradrenalin in seine Speicher. Angewendet werden sie bei leichten und mittelgradigen Depressionen, vor allem wenn die Antriebslosigkeit im Vordergrund steht.
Wirkstoff: Reboxetin
Multimodales Antidepressivum
Es werden spezifische, bei der Pathophysiologie der Depression eine wesentliche Rolle spielende, pharmakodynamische Strukturen modifiziert, wie z. B. Serotonin-Transporter, 5HT1A, 5HT1B, 5HT1D, 5HT3A, 5HT7.
Wirkstoff: Vortioxetin
Trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva
Trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva sind ältere Medikamente zur Behandlung von Depressionen. Ihr Name leitet sich von ihrer chemischen Struktur ab. Die antidepressive Wirkung dieser Präparate beruht darauf, dass sie die Wiederaufnahme von Serotonin und/oder Noradrenalin hemmen – sie beeinflussen aber auch andere Neurotransmitter.
Trizyklika und Tetrazyklika haben folglich eine sehr breite Wirkungsweise, allerdings auch viele unerwünschte Wirkungen. Ihre Anwendung ist in den letzten Jahren aufgrund der vielfachen Nebenwirkungen stark zurückgegangen.
Wirkstoffe: Amitriptylin, Clomipramin, Maprotilin In anderen europäischen Ländern in Verwendung, in Österreich aber nicht zugelassen: Amitriptylinoxid, Doxepin, Imipramin, Nortriptylin, Trimipramin
Monoaminoxidase-Inhibitoren
Monoaminoxidase-Inhibitoren (auch MAO-Hemmer) hemmen das Enzym Monoaminoxidase. MAO-Hemmstoffe werden künstlich hergestellt. Das Enzym Monoaminoxidase baut die Botenstoffe Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin ab. Werden MAO-Hemmer eingenommen, steigt daher die Konzentration dieser Substanzen an.
Sie greifen in den Stoffwechsel der Botenstoffe im Gehirn ein und wirken u. a. stimmungsaufhellend und antriebssteigernd. Mögliche Nebenwirkungen sind Herzrasen, Schwindel, Schlafstörungen, Gefühlsstörungen, Hautjucken, Sehstörungen, Mundtrockenheit, Appetitverlust und Störungen bei der Harnentleerung.
Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind bekannt. Verschiedene Nahrungsmittel, die biogene Amine (Gewebshormone)enthalten, wie Rotwein, Käse, Nüsse u. a., können bei Zufuhr großer Mengen und gleichzeitiger Behandlung mit MAO-Hemmern Bluthochdruckkrisen auslösen.
Man unterscheidet zwei Typen der MAO: MAO-A und MAO-B. Tranylcypromin hemmt beide Formen der MAO, zudem ist diese Hemmung nicht rückgängig zu machen (irreversibel). Nach einer Behandlung mit Tranylcypromin muss der Körper die Enzyme erst wieder neu bilden. Der Aufbau kann bis zu drei Wochen dauern, weshalb Neben- und Wechselwirkungen entsprechend lange anhalten. Tranylcypromin ist in Österreich nicht erhältlich. Moclobemid hemmt nur MAO-A, zudem hebt sich die Hemmung nach einiger Zeit wieder auf, ist also reversibel.
Reversible Monoaminoxidase-Inhibitoren werden vor allem bei schweren Depressionen eingesetzt. Da unerwünschte Wirkungen relativ häufig sind und zudem zahlreiche Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten bestehen, werden MAO-Hemmer meist erst dann verschrieben, wenn andere Antidepressiva nur eine unzureichende Besserung der depressiven Symptome bewirkt haben.
Melatonin-Agonisten und selektive Serotonin-Hemmer
Melatonin-Agonisten und selektive Serotonin-Hemmer wirken über eine Stimulierung von Melatonin-Rezeptoren und die gleichzeitige Blockade von bestimmten Serotonin-Rezeptoren. Dadurch soll es zu einer Erhöhung von Dopamin und Noradrenalin kommen. Melatonin ist ein natürlich im Körper vorkommendes Hormon, das den Schlaf-Wach-Rhythmus reguliert. So erklärt sich auch der schlaffördernde Effekt. Diese neueren Antidepressiva sind seit 2009 EU-weit zugelassen.
Wirkstoff: Agomelatin
Miratazapin und Mianserin
Weitere Antidepressiva, die das Serotonin- und/oder Noradrenalin-System beeinflussen, sind die Noradrenalin- und Serotonin-spezifischen Antidepressiva (NaSSA) Mirtazapin und Mianserin, der Glutamat-Modulator (GM) Tianeptin sowie der Serotonin-Antagonist und Wiederaufnahme-Hemmer (SARI) Trazodon.
Lithium-Präparate
Zudem ist bei bestimmten Formen der Depression auch die Gabe anderer Psychopharmaka sinnvoll: Bei schweren Verläufen, insbesondere wenn depressive Episoden wiederholt auftreten, sowie bei manisch-depressiven Erkrankungen werden langfristig Medikamente zur Verhinderung von Rückfällen (Rezidivprophylaxe) verabreicht. Schon lange kommen hierfür Lithium-Präparate zum Einsatz, in letzter Zeit auch verschiedene Arzneimittel zur Behandlung der Epilepsie (Antiepileptika) wie Carbamazepin oder Valproinsäure.
Wie lange müssen Antidepressiva eingenommen werden?
Bis betroffene Menschen die stimmungsaufhellende Wirkung von Antidepressiva bemerken, dauert es – je nach Wirkstoffgruppe – im Durchschnitt zwischen acht Tagen und drei Wochen. Stellt sich kein Effekt ein oder treten starke Nebenwirkungen auf, wird der Arzt die Dosis anpassen bzw. auf ein Antidepressivum mit einem anderen Wirkmechanismus zurückgreifen.
Nach der erfolgreichen Behandlung einer ersten depressiven Episode sollten die Medikamente nach Abklingen der Symptome noch ein halbes Jahr lang eingenommen werden. In weiterer Folge kann die Therapie langsam ausgeschlichen werden. Bei schweren und/oder wiederkehrenden Episoden kann allerdings eine jahrelange Behandlung vonnöten sein.
Wenn Sie auf die Therapie nicht oder nicht ausreichend ansprechen, kann der behandelnde Arzt das verwendete Präparat höher dosieren, auf ein anderes Präparat wechseln, mit einem anderen Medikament kombinieren oder Ihnen eine zusätzliche Psychotherapie empfehlen. Weitere Alternativen sind die Elektrokrampftherapie, Schlafentzug, Magnetstimulation, Lichttherapie und Bewegungstherapie.
In jedem Fall ist es wichtig, dass Betroffene Ihrem Arzt vertrauen und die verordneten Arzneimittel regelmäßig und in der richtigen Dosierung einnehmen. Viele Behandlungen scheitern, weil ein vorgeschlagener Therapieplan nicht eingehalten wird. Einerseits weil manche Patienten die Einnahme von Antidepressiva von Beginn an ablehnen. Andererseits weil viele Patienten zu Beginn einer Behandlung noch keine Besserung, dafür aber Nebenwirkungen bemerken und an der Wirksamkeit des Medikaments zweifeln; oder aber gerade weil sich die depressive Symptomatik nach einiger Zeit gebessert hat und die Einnahme der Tabletten als nicht mehr notwendig erachtet wird. Durch dieses zu frühe Absetzen der Medikamente besteht erhöhte Gefahr für ein Wiederauftreten der Erkrankung.
Arzt und Patient sollen daher in einem offenen Gespräch alle anstehenden Fragen klären – insbesondere zur voraussichtlichen Behandlungsdauer sowie zu Wirkungen und möglichen Nebenwirkungen der verordneten Medikamente.
Welche Nebenwirkungen können auftreten?
Meist machen sich Nebenwirkungen am Beginn bemerkbar und verschwinden im Laufe der Behandlung wieder. Ältere Medikamente verursachen oft Verstopfung oder Herz-Kreislauf-Probleme. Die heutzutage eingesetzten SSRI haben deutlich weniger Nebenwirkungen.
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Bei welchen Personen ist besondere Vorsicht angebracht?
Therapie bei älteren Menschen
Gerade bei älteren Menschen ist oftmals eine dauerhafte Behandlung depressiver Episoden notwendig. Hierbei muss darauf geachtet werden, dass in diesem Alter häufig bestehende Grunderkrankungen (z.B. COPD oder koronare Herzerkrankung) durch Antidepressiva nicht negativ beeinflusst werden. Auch der veränderte Abbau von Medikamenten bei älteren Menschen sowie etwaige Wechselwirkungen mit anderen verordneten Arzneimitteln müssen berücksichtigt werden.
Behandlung in der Schwangerschaft
Die Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft sollte mit dem Arzt abgeklärt werden. Studien zeigen unter der Einnahme von SSRI keine erhöhte Missbildungsrate, allerdings belegen neuere Studien ein erhöhtes Risiko für Frühgeburten.
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Autoren:
Dr. Matthias Thalhammer, Mag. (FH) Silvia Hecher, MSc, Dr. Brigitte Rous, Ärztin für Allgemeinmedizin (2008)
Medizinisches Review:
o. Univ.-Prof. Dr. h.c. mult. Dr. med. Siegfried Kasper, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien
Redaktionelle Bearbeitung:
Dr. med. Peter Mahlknecht, Dr. med. Stefanie Sperlich